Wie vermutlich bei den meisten unter euch passen die Bücher, die ich lese, immer sehr stark zu dem, was mir in meiner jeweiligen Lebensphase hilfreich und wichtig erscheint. Am Anfang unserer „Zeit zu Dritt „war´s das Mami-Buch oder der Wegweiser durch die Schwangerschaft, dann „oh je ich wachse“ und mittlerweile lese ich mich durch Ratgeber, die unserem kleinen Mann eine optimale Entwicklung ermöglichen sollen. Denn mit zunehmendem Alter kommt auch seine Persönlichkeit immer mehr zum Ausdruck und das stellt uns doch in der ein oder anderen Situation vor eine ganz neue Herausforderung. Dass Niki einen starken Willen und unbändigen Entdeckerdrang hat, das haben wir ja schon früh gemerkt. Mit seinem wachsenden Wunsch nach Selbstbestimmung ergibt das manchmal eine recht explosive Mischung. 😉

Von Jesper Juul – dem dänischen Familientherapeuten – las ich schon „5 Grundsteine für eine Familie“ und vor einigen Wochen nahm ich mir „Dein kompetentes Kind“ vor. In diesem Titel steckt schon sehr viel von Jesper Juuls Auffassung: Kinder werden nicht als „halbfertige“ Wesen geboren, auf die Erwachsene mit jeder Menge Erziehung und Autorität einwirken müssen. Stattdessen haben sie eine „eigene Persönlichkeit und sind damit menschlich und sozial kompetente Partner ihrer Eltern“. Damit möchte er vor allem verdeutlichen, dass wir durch sie sehr viel über uns lernen können.

Ich muss gestehen – das Buch hat mich ganz schön aus der Bahn geworfen. Obwohl ich viele Muster und Phrasen (die auch ich anfangs gedankenlos übernahm und bei Niki „anwandte“) längst hinterfragte und ablegte, wurde mir durch Jesper Juul auch bewusst, dass ich noch sehr, sehr viel zu lernen habe. Das ist positiv ausgedrückt. Tatsächlich zweifelte ich an meinen Fähigkeiten als Mama. Und tue es nach wie vor noch manchmal. Schließlich reicht „das Beste geben“ eben nicht immer aus. Klar gibt es keine perfekte Familie, aber das erscheint mir oft auch nur wie eine Floskel, um seine eigenen Fehler oder Unfähigkeiten zu beschwichtigen. Es sind Feinheiten. Kleinigkeiten. Aber genau die machen einen großen Unterschied.

Es gab viele Passagen in diesem Buch, in denen ich angeregt wurde über Dinge nachzudenken, die mir zuvor als vollkommen „unschädlich“ vorkamen. Und ich verzweifelte zwischendurch, weil mir bewusst wurde, wie oft ich intuitiv falsch reagiere. Obwohl ich meine, es ist richtig und gut. Ist es eben nicht. Auf der anderen Seite gab es mir Selbstvertrauen. Der Ansatz von Jesper Juul hält sehr viel von dem, was traditionelle Erziehung betrifft für überflüssig und schädlich. Und viel von dem, was gemeinhin als unerzogen gilt, für wichtig, hilfreich und natürlich.

Dabei richtet er sich nicht konkret an Eltern von Kleinkindern, auch Eltern von Schulkindern und Teenagern können sich aus seinem Ratgeber jede Menge Nützliches ziehen.

Ich möchte heute ein paar der für mich wichtigsten und markantesten Punkte aus seinem Buch für euch und auch für mich aufschreiben, sie ein bisschen ausführen und euch zwischendrin erzählen, was mir dazu durch den Kopf geht. Einige bedürfen allerdings gar keiner großen Stellungnahme.

Entscheidend für die gesunde Entwicklung von Kindern und Eltern ist die Qualität des Zusammenspiels in der Familie, also das, was wir gemeinhin als „Ton“, „Stimmung“ oder „Atmosphäre“ bezeichnen.

Ich denke, in großen Teilen haben wir darüber vor einigen Monaten in einem nachdenklichen Post geschrieben, den ihr hier nochmal nachlesen könnt.

Wenn Kinder aufhören zu kooperieren, dann wurde entweder ihre Kooperationsbereitschaft überstrapaziert oder ihre Integrität verletzt. Es geschieht niemals, weil sie nicht kooperieren wollen.

Alles, was Jesper Juul über die Kooperationsbereitschaft von Kindern schreibt, überraschte mich total. Seiner Erfahrung nach kooperieren Kinder unter allen Umständen mit den Erwachsenen, unabhängig davon, ob das für sie förderlich ist oder nicht. Allerdings tritt die Kooperation unterschiedlich zu Tage, denn sie kann spiegelverkehrt sein oder direkt. Heißt: besonders wenn Kinder den Eltern am beschwerlichsten erscheinen, sind sie für sie am hilfreichsten, denn durch ihre feinen Antennen spüren sie sofort, dass etwas nicht stimmt und machen die Erwachsenen durch unterschiedliche Signale auf diesen Missstand aufmerksam. Jesper Juul führt bspw. auch aus, dass das destruktive oder asoziale Verhalten eines Kindes immer darauf zurück zu führen ist, dass mindestens ein Erwachsener in seiner Umgebung das gleiche tut.

Psychosomatische Signale und Symptome sind verschlüsselte Botschaften, die von den Erwachsenen aufgefangen und gemeinsam mit dem Kind in eine direkte, klare Sprache übersetzt werden müssen.

Zu denen zählen beispielsweise Unter- oder Übergewicht, Kopf-, Bauch- oder Rückenschmerzen oder muskuläre Verspannungen. Dieses Kapitel betrifft uns nicht, aber ich wollte es trotzdem aufführen, weil das für einige Leser sicher eine hilfreiche Information ist. Sein wichtigster Rat an die betroffenen Eltern: hinschauen und das Kind so auf eine neue Art und Weise kennenlernen. Sich das Ausfragen sparen.

Zwei Dinge sind es, die unser Selbstgefühl nähren. Zum einen, wenn wir von mindestens einer wichtigen Person in unserem Umfeld bewusst „gesehen“ und akzeptiert werden. Zum anderen wenn wir erleben, für andere Menschen wertvoll zu sein, ohne uns verstellen oder etwas leisten zu müssen. 

Erwachsene sollten die Wünsche und Bedürfnisse ihrer Kinder unbedingt ernst nehmen (heißt deswegen nicht: jeden Wunsch erfüllen). Aber es ist wichtig, die Signale der Kinder zu empfangen, auch wenn das bedeutet, dass man alte Erziehungsprinzipien über Bord wirft und sich von der Erziehung anderer distanziert. Das setze ich meiner Meinung nach ganz gut um.

Aber mir war nicht bewusst, dass ich Nikis pure Existenz mit einer Leistung in Zusammenhang bringe, wenn er mir euphorisch seinen selbst gebauten hohen Turm zeigt und ich bspw. sage „das sieht ja toll aus“. Er möchte einfach nur, dass ich ihn sehe, nicht bewerte. Liebe soll nicht als Lob oder Kritik zum Ausdruck gebracht werden, denn das führt am Ende nur dazu, dass Kinder sich stets so verhalten, wie es die Umwelt von ihnen erwartet. Oder sie werden auf der Jagd nach Anerkennung völlig selbstbezogen.

Anderes Beispiel: die Tochter fällt in der Schule stark ab. Statt sie mit Fragen zu bombardieren und durch besorgte Wortwahl zu signalisieren, dass dieses Abfallen ein Problem für die Eltern ist (bei ihr kommt an: meine Gefühle werden nicht gut geheißen), wäre es wesentlich sinnvoller, sich ihr aufrichtig zuzuwenden, indem die Eltern den eigenen Eindruck schildern, Hilfe anbieten und ihre Tochter dadurch dazu animieren, selbst nach einer Antwort zu suchen.

Persönliche Bedürfnisse anderer Menschen sind nichts, was mich provozieren könnte und es ist nichts Außergewöhnliches, wenn sie nicht mit meinen eigenen Bedürfnissen übereinstimmen. Es ist gut und richtig, seine Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen.

Wenn Kinder Wünsche äußern, dann ist das ein Weg, wie sie sich selbst treu bleiben möchten. Je nachdem, wie ich als Elternteil auf diese Äußerung reagiere, kann ich meinem Kind mit meiner Reaktion auch signalisieren, dass genau das ein Problem ist, weil es mir damit zur Last fällt. Die Folge wird meistens sein, dass das Kind auch in Zukunft die Forderungen und Gefühle seiner Mitmenschen missachtet. Überhaupt sollte man sich ernsthafte Verhandlungen mit seinem Kind angewöhnen, denn es geht um einen Dialog, statt einfach um das Erlassen von Regeln und Gesetzen. Und kommt es dazu, weil man einem Wunsch nicht nachkommen kann oder möchte, unterbricht man seine Kinder am besten nicht, wenn sie mit ihrer Trauer zu kämpfen haben. Etwas, das mir zugegebener Maßen sehr schwer fällt, denn mit einer Mischung aus schlechtem Gewissen und Fürsorge möchte ich, dass am liebsten sofort wieder „alles gut ist“.

In den folgenden Lebensbereichen können Kinder von Anfang an persönliche Verantwortung übernehmen: die Sinne (was schmeckt gut und was nicht, was riecht angenehm und was nicht, was fühlt sich kalt oder warm an), die Gefühle Freude, Liebe, Freundschaft, Zorn, Frustration, Trauer, Schmerz und Lust und die Bedürfnisse Hunger, Durst, Schlaf, Nähe, Distanz.

Ja, ich habe meinem Kind schon seine Bedürfnisse „erklärt“ und dadurch fremdbestimmt – indem ich ihm bspw. sagte, dass er doch müde sei und ins Bett gehöre, obwohl er mir selbst noch kein Schlafbedürfnis mitteilte (wenngleich er in einer Tour gähnte). Dadurch hemme ich die Entwicklung seines gesunden Selbstgefühls und helfe ihm auch nicht dabei, eigenverantwortlich zu handeln. Gleichzeitig fragte ich mich, ob das bedeutet, dass er bspw. in Zukunft ins Bett gehen kann, wie er will. Nein, kann er i.d.R. nicht. Aber ich nehme ihn und seine Bedürfnisse ernst, begegne ihm mit Verständnis und versuche, mich in ihn hinein zu versetzen.

Wenn Kinder „einfach nicht zuhören“ wollen, dann liegt das in der Regel daran, dass die Eltern sich nicht so äußern, dass sich das Zuhören lohnt.

Schuldig im Sinne der Anklage. Die „persönliche Sprache“, wie Jesper Juul sie nennt dient dazu, unsere Gefühle, Reaktionen, Bedürfnisse und Grenzen zum Ausdruck zu bringen. Offen, ehrlich, persönlich. Den „Elternapparat“, der klugschwätzend erzieherische Weisheiten und Belehrungen von sich gibt, den kann man getrost ausschalten (der ist öfter an, als man vielleicht im ersten Moment denkt). Sprachlich betrachtet sollte jeder Versuch, eine Grenze zu setzen sowohl ein aktives, als auch passives Element haben. Beispiel: „Ich kann nicht verstehen, was deine Tante am Telefon sagt (passiv), also möchte ich, dass du bitte ruhig bist, so lange ich mit ihr spreche (aktiv)“. Damit beschreiben wir zum einen unsere Gefühle und zum anderen übernehmen wir die Verantwortung für unser Wohlbefinden.

Es ist sinnvoller, auf Hilfsbereitschaft, statt auf Pflichtgefühl zu setzen.

Eingangs möchte ich zu diesem Thema noch erwähnen, dass Jesper Juul es für wichtig hält, dass Eltern nicht einfach nur Aufgaben an die Kinder verteilen, weil ihnen „das gut tut“. Vielmehr erleben sie, dass sie für die Familie/ Gesellschaft wirklich wertvoll sind, wenn ihre Eltern tatsächlich Hilfe brauchen. Für Kinder geht es in erster Linie darum, ein Gespür für die individuellen Bedürfnisse und Grenzen zu entwickeln. Zwei Beispiele:

„Annika, ich brauche ein wenig Hilfe, könntest du den Abwasch übernehmen?“

Möglichkeit 1:

„Das geht nicht, ich treffe mich gleich mit Lea.“

„Das ist in Ordnung, aber dann könntest du doch abwaschen, wenn du zurückkommst, oder?“

Möglichkeit 2:

„Ich bin gerade so beschäftigt Mama.“

„Alles klar, ich mache es selbst.“

Pupertät: Wenn Konflikte entstehen, liegt das zumeist an der mangelnden Fähigkeit oder dem mangelnden Willen der Eltern, der individuellen, unverwechselbaren Persönlichkeit ihres Kindes offen zu begegnen.

Das Verhalten der Kinder in der Pupertät ist laut Jesper Juul lediglich ein klares, kompetentes Feedback. Form und Inhalt werden dadurch bestimmt, wie wir mit ihnen in den letzten 13, 14 Jahren umgegangen sind. Selbst die liebevollste Erziehung, die wir jetzt noch anwenden wollen, hat etwas Besserwisserisches, das Kinder als bevormundend und kritisierend empfinden. Und tatsächlich sendet diese Form der Erziehung zwei Botschaften aus: „ich weiß, was gut für dich ist“ und „ich bin nicht zufrieden mit dir, so wie du bist“. Das wichtigste für Eltern ist es in seinen Augen, voll und ganz hinter dem eigenen Kind zu stehen, wenn es sich selbst kennen lernen möchte.


Mit diesen Zitaten und Erklärungen habe ich nur einen Teil dieses für mich wirklich augenöffnenden Buchs von Jesper Juul abgebildet. Und natürlich auch besonders das hervorgehoben, was mir nützlich und wichtig erscheint – für euch mögen andere Passagen noch hilfreicher sein. Wenn euch der Ansatz von Jesper Juul zusagt, dann kann ich euch den Kauf dieses „Ratgebers“ nur ans Herz legen. Ich bin unheimlich dankbar dafür, dass ich durch „Mein kompetentes Kind“ mein eigenes Handeln hinterfrage und nochmal einen ganz neuen Zugang zu Niki und seinen Verhaltensweisen bekomme.

Liebe Grüße

Julia